Dass VW ein Problem hat, muss niemand mehr berichten. Zuerst kam das Dieselgate, dann das CO2-Gate. Elf Millionen Dieselautos sollen mit manipulierten Verbrauchswerden unterwegs sein – hinzu kommen 800.000 Benziner mit zu hohen CO2-Emissionswerten. Milliardenschäden dürften bereits sicher sein, schreibt die Zeit.
Auslöser war übrigens die oftgenannte Zivilgesellschaft: Die US-amerikanische NGO ICCT hatte unabhängige Tests durchführen lassen und hatte die Umweltbehörde EPA angespitzt. Diese könnte VW übrigens zu Strafen verdonnern – bis zu 18 Milliarden Dollar. Dass VW-Chef Winterkorn zurückgetreten ist, ist da schon fast eine Fußnote.
VW dürfte mit dem Skandal übrigens nicht alleine bleiben. Ungewöhnlich hohe Emissionsüberschreitungen werden auch von einer Reihe weiterer Autohersteller berichtet – noch ist noch nicht klar, ob und wer von ihnen auch getrickst hat. Es ist also kein VW-Skandal alleine: Es ist ein Skandal der Autoindustrie.
Mogeln auf hohem Niveau
Haben Sie gewusst, dass die Abgaswerte Ihres Autos im Labor und nicht auf der Straße gemessen werden? Und dass dabei schon immer horrende Differenzen zum Alltagsbetrieb in Kauf genommen wurden? Ich nicht. Es war aber immer schon so. Ich erfuhr es erst, als die EU sich kürzlich auf die Socken gemacht hat, um die Tests „wirklichkeitsnäher“ zu gestalten. Hat sich irgendjemand gefragt, warum die EU seit Jahren – im Umkehrschluss ihrer eigenen Worte – „wirklichkeitsfern“ gemessen hat?
Damit beauftragt ist eines der technischen Kommittees der EU-Kommission, in der alle möglichen Fachleute sitzen – nur keine, die uns bekannt wären. Und es wäre auch nicht aufgefallen, dass sie dabei waren, die Grenzwerte (über sogenannte „Abweichungsfaktoren“) um die Hälfte hinaufzumogeln, wenn nicht ein paar NGOs (u.a. der VCÖ und sein europäischer Dachverband T&E) und EU-Abgeordnete „Haltet den Dieb“ gerufen hätten.
Und dann stellen sich einige der Fachleute, die mit dem Thema betraut sind (wie zum Beispiel Jos Dings von der NGO Transport&Environment, die Frage: „Warum um alles in der Welt haben wir ein Jahrzehnt gewartet, bis die Amerikaner uns sagten, dass unsere Autos verkehrt sind?“
Das ist das heiße Thema.
Seit Jahrzehnten sitzt die Autoindustrie den Nationalstaaten und diese der EU-Kommission am Schoß und vermittelt ihnen die eingängige Botschaft: Wir wollen ja konkurrenzfähig bleiben, oder? Also müssen wir bei höheren Emissionsgrenzen an dem orientieren, wozu wir imstande sind, oder? Also setzen wir mal lieber auf flexible, freiwillige Vereinbarungen, oder? Und wenn ihr schon – von wegen öffentlicher Meinung und so – verpflichtende Regeln einführen müsst, dann sollten es doch Regeln sein, die uns eine gewisse Flexibilität ermöglichten, oder?
Also wurden Regeln gemacht, die alle möglichen Tricks erlaubten: Zwar erließen die EU-Gesetzgeber Regelungen für Maximalemissionen des Flottenbestandes, aber…
- Es war erlaubt, die Abgaswerte im Labor zu ermitteln (nun wissen wir, wie).
- Es war erlaubt, zum Messen zu jedem beliebigen nationalen EU-Regulator (auch dem laxesten) zu gehen und das Ergebnis EU-weit gültig sein zu lassen.
- Es war erlaubt, einen bestimmten Prozentsatz der Flotte (die besonders heftigen Dreckschleudern) aus der Berechnung auszuschließen.
- Es war erlaubt, die Emissionen von besonders innovativen Fahrzeugen gleich dreimal anzurechnen und mehr.
Und – wie immer das alles gelaufen ist – keine EU-Institution wollte es so genau wissen, wieviel die Autos wirklich emittierten, dass sie auch tatsächlich unabhängig nachmessen wollte. Der niederlänische liberale MEP Gerben-Jan Gerbrandy sagte dazu:
‘The problem is the system we have created in the EU, where there seems to be a very perverse incentive for national testing authorities to be as easy-going as possible to attract car companies.’ (Zitat)
Deal? Deal.
Es war ein Deal: Der deal lautete de facto: Wir (die Autoindustrie) tun eh was. Wir zeigen euch, was wir können. Ihr (die Gesetzgeber) seid dafür handzahm und setzt uns nicht übermäßig unter Druck.
Nicht gerade störend war, dass der langjährige EU-Kommissar für dieses Thema Günter Verheugen war – FDP-Politiker aus dem Ruhrpott, wo die deutsche Autoindustrie wohnt. Alleine Volkswagen gab 2014 3,3 Millionen Euro für Lobbying aus und hat dort 43 Lobbyisten. Die gesamte Autoindustrie „investierte“ 18 Millionen Euro in die EU-Politikmaschine – allen voran Volkswagen, Daimler und BMW. Die Autoindustrie hatte im ersten Halbjahr 2014 mehr als zwanzig Termine mit dem EU-Kommissar oder seinem Kabinett, und – VW-Vertreter sitzen just in jenem oben erwähnten technischen Kommittee, das en passant versuchte, die Emissionsgrenzwerte hinaufzuschnalzen, analysierte jüngst die NGO Corporate Europe.
Lobbygate
Und nun kam auf, dass ein erheblicher Teil der europäischen Autoindustrie nicht nur präferenzielle Regeln für seine spritfressende Flotte erreicht hatte, sondern die gesamte Europäische Union im großen Stil angelogen hatte. Das ist ein Lobbygate.
Das hat etwas mit Vertrauen zu tun. Und damit, wie Lobbying funktioniert. Wieviel Vertrauen werden die EU-Institutionen noch haben, wenn der nächste VW-Vorstand ihnen sagt, „was los ist“? Wie wird er argumentieren? Wer wird ihm glauben? Der Aufschrei des EU-Parlaments gegen die stille Anhebung der Abgasgrenzwerte ist ein erster Vorgeschmack dafür, was alles möglich ist.
Oder wird sich die Autoindustrie darauf verlegen, was andere Industrien (vor allem die Schwerindustrie) schon länger gut machen – oben drohen und unten Sand ins Getriebe werfen?
Der Vertrauensschaden ist wohl der größte Schaden, den VW ausgelöst hat. Und er wäre wirklich nicht notwendig gewesen.