Quetschen wir uns regelmäßig aus? Oder tun wir das gerne freiwillig? Ich bin mir da nicht sicher, ob wir da nicht einem Trend auf den Leim gehen.
Kürzlich war die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen in Wien. Die streitbare Forscherin des menschlichen Zusammenlebens glaubt viele gängige Erklärungen nicht, im Gegenteil: Sie überprüft gängige Narrative (Zitat:) „an ihrern Rändern“ und findet alternative Erklärungen für viel mehr als nur die Ränder. Zum Beispiel diese:
„Modes of Extraction“
Sassen beschrieb zwei Phänomene: 1) Die amerikanische Subprime-Krise der Nullerjahre: Tausende Menschen verloren ihr Hauseigentum an Banken. Die BewohnerInnen mussten in Miete umziehen und das entzieht ihrem Haushaltseinkommen auf Dauer Geld. 2) Die Immobilienblase in den europäischen Großstädten lässt Mietpreise in Höhen klettern, die mit Wohnwert und Wohnbedarf nicht zusammenpassen. Wer sich in Berlin oder London noch eine Wohnung leisten will, muss überproportional viel seines Haushaltseinkommens an Immobilienbesitzer abgeben, die ihr Vermögen zu überproportional hohen Preisen veranlagt haben.
Sassen’s Erklärung: Hier extrahiert die Finanzwirtschaft Arbeit und Wohlstand von Menschen, die damit nichts zu tun haben – die das über weite Strecken sogar nicht einmal wissen.
Natürlich wird sie für diese Erklärungen kritisiert. Nun ist der Kampf um Erklärungen selbst eine interessante Geschichte (geschrieben z.B hier), aber nehmen wir aber mal „für wahr“ (daher kommt „Wahrnehmung“), dass hier etwas extrahiert wird. Kennen wir das im Organisationskontext auch?
Die neue Selbstständigkeit
Als Denkexperiment wird man ja noch wagen können: Wenn unsere Arbeitskontexte von immer mehr Freiheit in immer engeren Ergebniskorridoren erzählen, dann heißt das: Wir sind immer freier darin, wie wir mehr leisten. Das ist vielfach gewünscht, denn Freiheit bringt Selbstwirksamkeit (und sowas streben wir echt an, geschrieben z.B. hier). Und es erspart, uns zu etwas zu zwingen, was wir eigentlich gar nicht wollen, nämlich: mehr arbeiten. Mittlerweile gibt es gute Ergebnisse, die belegen, wieviel ein Mensch gerne freiwillig arbeitet: etwa 30 Stunden.
Wenn Sassen’s Thesen etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben, dann gibt es also Gründe, darüber nachzudenken, welche unserer neuen Freiheiten tatsächlich gerne und selbstgewählt sind, und wo wir eher der Extraktion auf den Leim gehen.
Selbstwirksam ohne Überforderung erreicht multiple Ziele
Das heißt jetzt aber nicht, dass es günstig wäre, weniger zu leisten, im Gegenteil. Ich gehe von der Prämisse aus, dass Menschen gerne viel zusammenbringen – nur dass wir uns nicht gerne freiwillig überarbeiten. Wenn wir also Veränderungsprozesse dahingehend steuern, dass Menschen befähigt sind, selbstwirksam bessere Ergebnisse zu erzielen, haben zwei was gewonnen: Wirtschaft und Mitarbeitende. Nachhaltiger ist es obendrein.
Dafür müssen wir etwas vielleicht vorderhand Unangenehmes mit einplanen: Dass die Beteiligten auch eine Stimme haben und ein Ohr finden für einen Diskurs über die Rahmenbedingungen, in der sie Höchstleistungen erbringen (und Arbeitslast und -geschwindigkeit ist eine Rahmenbedingung). Auch davon hat die ganze Organisation viel mehr, als wir landläufig glauben.
Diesen Pfad könnten wir ja mal verfolgen.