Gruppen und Theorie, Teil 2: Die Gruppenspirale

In den Grundausbildungen der Gruppendynamik lernen wir im Wesentlichen drei Phasenmodelle, wie sich Gruppen entwickeln. Alle Modelle haben diese Grundannahme, dass hier etwas linear abläuft. Hier ist ein spannendes Modell, das stärker zyklisch denkt.

12 Jan, 2018

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In den Grundausbildungen der Gruppendynamik lernen wir im Wesentlichen drei Phasenmodelle, wie sich Gruppen entwickeln: Wilfried Bion’s Modell der Grundannahmen (Abhängigkeit, Kampf/Flucht, Paarbildung, Gruppenbildung) basiert auf einem tiefenpsychologischen Ansatz. Bennis/Shepard’s Dependenz-Konterdependenzmodell fokussiert auf die Auseinandersetzung mit Autorität, und natürlich Tuckman mit seinem wohl meist-missinterpretierten Phasenmodell. Alle Modelle haben diese Grundannahme, dass hier etwas linear abläuft, auch wenn alle Autoren im Text das Gegenteil auch sagen, weil es halt nicht immer so ist.

Die „Gruppenspirale“ habe ich erstmals bei Matt Minahan gelesen, in einem (übrigens sehr guten) Buch über Organisationsentwicklung. Es verbindet die Idee einer quasi-linearen Entwicklung mit dem für soziale Systeme typischen zyklischen Oszillieren. Und das hat was.

Q: Minahan, M. (2006): Working with Groups in Organizations, in: Jones/Brazzel (ed.): The NTL Handbook of Organization Development and Change. Pfeiffer, San Francisco

  • Der Einstieg bezeichnet die Phase, in der es darum geht, ob man überhaupt dazugehört. Dieses Streben nach Zugehörigkeit ist eine der am stärksten angstbeladenen Dimensionen, das wissen wir, seitdem Kurt Lewin seine Feldtheorie entwickelt hat. Wir können „Einstieg“ auch als zyklisches, immer wiederkehrendes Phänomen begreifen, das offene Systeme notwendigerweise haben müssen, um offen sein zu können. Wir sprechen gerne von einer „Gruppenhaut“, die sowohl trennend als auch durchlässig ist wie die menschliche Haut.
  • In der Erwartungsphase werden Rollen und Führung verhandelt – mit anderen Worten: Die Gruppe gibt sich Struktur. Auch das ist immer wieder Thema. Moderne OE-Ansätze wie z.B. Holokratie (siehe z.B. Brian Robertson’s Standardwerk) haben diese Arbeit in eigene Strukturen und Meetings eingebettet, damit sie statt finden kann. Es ist die Strukturierung des „Wir“, um handlungsfähig zu sein.
  • Die Etablierung wendet sich dann (endlich, sagen die PraktikerInnen!) der Sacharbeit der Gruppe zu, und zwar der Strukturierung des „Es“ (und nicht mehr des „Wir“). Hier werden Pläne und Strategie verhandelt – es geht simultan um das „wie tun wir es“ und um das „was tun wir“.
  • Die Effektivitätsphase ähnelt dann der Tuckman’schen Performance: Hier wird inhaltlich gearbeitet. Das Zyklische an dieser Phase ist, dass sie idealerweise verlassen wird (und zwar überallhin anders), wenn es Einflüsse gibt, die die Effektivität stören, und danach wieder erreichen. Dysfunktional ist eine Gruppe, die immer darin verharrt (und damit nicht effektiv ist), oder nie dorthin kommt (und damit auch nicht effektiv ist).
  • Ganz interessant ist dann der nächste Schritt: Evolution. Hier geht es darum, dass die Gedanken und Ideen über die Zukunft auftreten, und dass das alles keinen Bestand hat. Diese Gedanken kommen spontan, werden aber oft verdrängt oder unterdrückt, weil sie stören die Effektivität – und sie sind enorm wichtig, damit sich eine Aufgabe nicht totläuft.
  • Der Ausstieg ist dann eine mögliche Weiterentwicklung, wenn sich die Gruppe (oder wesentliche Mitglieder davon) verabschiedet. Genauso kann aus der Evolutionsphase eine neue Einstiegs- und Erwartungsphase werden.

Kritik und Würdigung

Das Modell hat einen gewissen Charme, insbesondre in folgenden Punkten:

  • Das Modell trägt eine Grundannahme mit sich: Viele Gruppen sind zusammen, um etwas gebacken zu kriegen, und diese Kraft ist stark und nützlich. Die Sachebene ist also eine Triebfeder, die wir prozessorientierten BeraterInnen oft vernachlässigen.
  • Das Modell passt deswegen gut auf Teams und Gruppen in Organisationen, die stärker aufgabenorientiert sind als z.B. Trainingsgruppen im Ausbildungskontext.
  • Das Modell hat ein stärker zyklisches Verständnis – ein Pendeln, das aus der Selbststeuerungsenergie der Gruppe kommt. Sobald Dysfunktionalität auftaucht, ist auch das Potenzial zur Selbststeuerung da. Ich als Moderator nütze diese Annahme dazu, um stärker in das Potenzial zur Selbststeuerung zu intervenieren, anstatt zu steuern und damit in Ersatzhandeln zu gehen.
  • Der Autor weist darauf hin, dass dies keine distinkt abgegrenzten Phasen sind, deren Übergang notwendigerweise sicht- und spürbar sind, sondern eher Schwerpunkte in einem Feld. Als Gruppenpraktiker habe ich die Assoziazion: Meistens können wir eine Phase gut benennen, wenn sie vorbei ist.

Und natürlich hat das Modell wieder ein paar Fallen, insbesondre diese zwei:

  • Wer es oberflächlich ansieht, sieht schon wieder einen linearen Verlauf, und damit stehen wir wieder in dem Gatsch, aus dem wir gerade raus wollten. Ich hätte die Grafik zum Beispiel nicht als Spiralband gezeichnet, sondern als „Wellenberge und -täler“ in einem sich bewegenden Meer, auf dem das Schiffchen der Gruppen- (oder Moderatoren-) Aufmerksamkeit hin- und hergleitet – in etwa so wie hier rechts.
  • Ich finde, dass das Modell den Faktor „Widerstand“ unterbelichtet, denn er kommt nicht explizit vor (wie im Tuckman-Modell mit „storming“). Widerstand und daraus resultierender Konflikt sind starke Triebfedern von Entwicklung und Veränderung – sie sind  notwendige Inhaltsstoffe statt unangenehme Begleiterscheinungen. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt: Dass wir GruppendynamikerInnen das Thema manchmal überbelichten. Andere Coryphäen wie zum Beispiel Ruth Cohn mit ihrer TZI sind da auch weniger widerstandsverliebt und haben trotzdem hochwirksame Modelle. Wir sollten also keine Religion daraus machen.

Am Ende kommt es immer wieder auf Eines: Ein Modell muss drei Kriterien erfüllen:

  • Der/die BeraterIn muss sich damit wohlfühlen, es gut verstehen und anwenden können, sonst hilft garnichts.
  • Das Modell muss auf die konkrete Situation gut passen und in der Lage sein, Phänomene so zu erklären, dass Veränderung möglich ist, weil wozu sonst haben wir diese Modelle? Weil wir was tun wollen („Willst du verstehen, dann versuche zu verändern“, sagte Kurt Lewin). Gescheitsein ist keine ausreichende Kategorie.
  • Das Modell muss für das Klientensystem verständlich und begreifbar sein, sofern wir es dem Klientensystem zeigen, zum Beispiel im Rahmen von Hypothesenbildung. Wenn wir es nur intern im Staff nützen (und dafür gibt es gute Gründe, dass die BeraterInnen manche Bilder nicht ins System zurückspiegeln, sondern nur zur Interventionsplanung nützen), dann ist das natürlich unwichtig.

Wie üblich bin ich der Meinung, dass ich mit dieser Meinung vielleicht auch ganz falsch liege. Hinweise darauf nehme ich dankend entgegen, zum Beispiel als Kommentare daran.

 

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