Gruppen und Theorie, Teil 1: Gruppenphasen

Ich hatte kürzlich einmal wieder die Erfahrung, wie falsch wir oft mit Theorien im Gruppenkontext umgehen: Wir sind dankbar um jeden Halm, der uns das undurchschaubare erklärlich macht, und wir sind oft im Stress mit einfachen Erklärung zufrieden. Das ist vielleicht besser als nichts, aber es zahlt sich aus, einzelnen Theorien immer wieder auf den […]

12 Okt, 2017

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Ich hatte kürzlich einmal wieder die Erfahrung, wie falsch wir oft mit Theorien im Gruppenkontext umgehen: Wir sind dankbar um jeden Halm, der uns das undurchschaubare erklärlich macht, und wir sind oft im Stress mit einfachen Erklärung zufrieden. Das ist vielleicht besser als nichts, aber es zahlt sich aus, einzelnen Theorien immer wieder auf den Zahn zu fühlen. Henry Louis Mencken sagte mal: „Explanations exist […]; there is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong„. Deswegen beginne ich eine Serie, in der ich in loser Folge gruppendynamische Theorien herzeige und querbürste – als Auffrischung unseres Alltagsverständnisses von dem, was sich tut, wenn wir miteinander tun. Die Summe der Artikel findet sich in der Kategorieübersicht „Gruppentheorien“.

Tuckman’s Teamuhr – ganz ohne Uhrwerk

Der erste Beitrag beginnt mit der wohl am häufigsten vereinfachten Gruppentheorie – sowas wie „worst of simplified“: Die Teamuhr von Bruce Tuckman. Die Theorie geht davon aus, dass Gruppen Phasen in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen, bis sie performen. Wir kennen alle die Begriffe: Forming, Storming, Norming, Performing, Re-Forming (oder Adjourning). Die Bezeichnung „Teamuhr“ suggeriert, dass das wie ein Uhrwerk läuft.

Tut es nicht. Bezeichnenderweise stammt das Wort „Teamuhr“ nicht von Tuckman selbst (der Article im Psychological Bulletin, in dem er 1965 die Theorie vorgestellt hat, findet sich übrigens hier) und ich bin weit weg davon, so einem gescheiten Mann so eine Vereinfachung zu unterstellen. Es sind die BeraterInnen, die aus einer komplexen Theorie gleich ein Werkzeug machen und – hurraa die Gams.

Grafik: eigene auf Basis von Tuckman und König/Schattenhofer

Also ergänzen wir die Theorie mit jenen gruppendynamischen Erkenntnissen, die König/Schattenhofer in meinem Lieblingsbuch zu Gruppendynamik vorstellen.

Warum haben wir Phasen?

Die Grundaussage ist einfach: Bis Gruppen richtig gut arbeiten können, müssen sie ein paar Phasen durchlaufen, die teilweise nicht so richtig gut sind. Wer versucht, die nicht-so-guten Phasen zu überspringen, könnte ordentlich hinfallen: Gruppen regredieren mitten in der heißen Phase, es wird mühsam-unergründlich, Leute laufen weg. Also besser gestalten als wegsteuern.

Spannend wird es, wenn wir uns fragen, welche Theorien es gibt, woher die Phase kommt und was sie in uns auslösen.

Im Forming fragen wir uns: Was treibt Menschen an, die zusammen kommen? Sie wollen sich kennenlernen? Nein, das ist ein Schritt zu weit: Das ist schon ein mögliches Ergebnis ihres Antriebs. Der Antrieb ist: Angst und Neugier. In der Blutbahn rittern Adrenalin(Aggression, Angst) und Dopamin (Neugier) miteinander, wer jetzt steuert. Wer neu in einer Gruppe ist, den treibt: Was tue ich hier? Wo gehöre ich dazu? Bin ich hier geschützt oder bedroht? Was denken „die alle“ über mich? Wer sind die? Die erste Handlung ist: wir suchen nach Orientierung. Wenn das so einfach wäre – wir wissen ja oft nichts voneinander. Oft greifen wir im ersten Schritt auf unsere Vorurteile zurück und beurteilen die Menschen auf Basis von kulturellen und tiefenpsychologischen Mustern. Das ist nicht verkehrt, denn es schafft in kurzer Zeit Orientierung, aber es stimmt oft nicht (hier ist ein cooles Beispiel dafür). Für die Einzelnen ist die Herausforderung, sich zu stabilisieren durch das Annehmen einer vorläufigen Orientierung und Kontaktaufnahme. Oft bilden sich Paare und Kleingrüppchen. Weil die Bindung untereinander fehlt, ist der/die Leiter/in das einzige klare Projektionsobjekt: Schaff‘ uns diesen Cocktail vom Hals, steht im Subtext der Blicke nach vorne. Dieser Druck kann ganz schön hoch sein, und die Seife ist ausgelegt, um draufzusteigen und alles tun zu wollen. König/Schattenhofer sprechen von einem dominanten Pol, den es zu bewältigen gilt, und der ist in dieser Phase: Integration. Es geht darum, sich näher zu kommen. Wenn diese Phase gelingt, entstehen die „Gruppenflitterwochen“: Ein super Gefühl, so spannende Leute! Ich erlebe in Anfangsphasen folgendes Phänomen: Entweder ich merke mir die Namen der anderen jetzt, oder ich schaffe es nie mehr wieder. Misslungenes „Forming“ heisst, dass der Kontakt brüchig und stereotyp bleibt und die Kontaktaufnahme auch in späteren Phasen schwierig ist – wenn es inhaltlich sowieso schwierig wird.

Storming: Wenn die Flitterwochen nur blieben! Aber der super Kerl mir gegenüber ist nämlich ein Macho, der abfällig über Frauen denkt, und dem werde ich… Genau. Wir sind nämlich auch IndividualistInnen. Und so drängt es uns zum gegenteiligen Pol, der Differenzierung: Wenn Menschen aneinander geraten, gibt es auch Konflikte. Und wenn sie zusammen bleiben wollen, müssen sie einen Umgang mit diesen Konflikten finden. Für den/die Einzelnen liegt auf der Waagschale: Wie weit darf ich hier ich sein, ohne das „wir“ zu verlieren? Wieder treibt uns ein Hormoncocktail, diesmal zwischen Aggression und Angst und der Lust auf Selbstbehauptung. Diese Phase lassen wir gerne aus. Und sie fällt uns danach gnadenlos auf den Kopf, denn auf Gruppenebene lernen wir im Storming, uns auseinanderzusetzen und zu streiten. Wenn die Gruppe das auslässt, wird sie sich selbst schlecht regulieren. Wenn Storming (z.B. aus Angst oder Überforderung) abgebrochen wird, fällt die Gruppe gerne später in diesen Zustand zurück – was sie nicht durch hat, holt sie ein. Auf die Gruppenleitung kommt die Anforderung zu, alles zu zu schlichten, und das sollte sie tunlichst nicht tun: Am besten Raum geben, damit die Teilnehmenden selbst schlichten können. Es ist nicht ganz blöd, als Gruppenleiter/in krisenfest zu sein, um das auszuhalten. Storming ist nicht immer klar sichtbar: manchmal ist der Widerstand diffus, mühsam, alle sind müde, keiner sagt was. Storming ist auch nicht immer klar vorbei, sondern geht eher wie eine Warmfront: Mal kommt schon die Sonne, dann regnet’s nochmal, dann wieder schön, dann wieder nicht, und irgendwann setzt sich dann der Hochdruckeinfluss durch.

Norming: Das häufigste Missverständnis ist, anzunehmen, dass Norming vor dem Storming kommt. Aber das geht garnicht: Beim Norming werden implizit oder explizit Gruppenregeln vereinbart, die halten – und nichts hält, über das man nicht auch zumindest verhandeln durfte (und das ist das Storming). Wenn die Gruppe gut gestritten hat, dann hat die Gruppenleitung in dieser Phase immer weniger zu tun, denn die Teilnehmenden tun selbst: Sie regeln ihre eigenen Angelegenheiten. Frei nach Kurt Lewin sind sie von „Betroffenen zu Beteiligten“ geworden – der Pol ist wieder „Integration“. Diese Phase ist selten explizit. Oft verzahnt sie sich mit den Nachbarphasen: Die Gruppe normiert, dann wird gebrochen und wieder gerungen, dann wieder normiert, dann hält es. Und dann kommt eine unvorhergesehene Situation, und plötzlich wird wieder aufgeschnürt. In der Holakratie (einer Organisationstheorie, die ohne explizite Hierarchien auskommt) wird diese Normierung in eigenen „Governance“-meetings gemacht. Die Gruppenleitung kann hier vor allem leisten: Normen immer wieder sichtbar machen, die Zustimmung abfragen (damit sie halten). Im Emotionscocktail der Leitung könnte hier jetzt Einsamkeit aufkommen: Herrje, die brauchen mich doch gar nicht! Herrje, das genau ist der Job der Leitung, ob man will oder nicht.

Performing: Und dann wird hochperformant gearbeitet, denn die Rollen (impliziten und expliziten Erwartungen) und Normen sind geklärt, das Wissen übereinander ist hoch, und die Möglichkeiten der Interaktion sind erschlossen. Aber diese Phasenbeschreibung täuscht darüber hinweg, dass natürlich schon vorher auch inhaltlich gearbeitet wird – nur der Subtext (also „um-was-es-eigentlich-geht“) unter der Arbeit ist stärker. Beim Performing tritt dieser Subtext in den Hintergrund und macht Platz für die Aufgabenerledigung. Immer wieder erleidet das Performing Brüche: Mal wird wieder gestritten (Storming), mal wird über Normen diskutiert und mehr. Die Tendenz steht aber auf dem Pol der Differenzierung.

Adjourning: Wir können das „im-Team-sein“ als eine eigene Existenzform auffassen: Das „Ich“ ist anders, wenn es ein starkes „Wir“ gibt. Wir stützen uns aufeinander, lagern unsere Schwächen aus, finden Stärke im Miteinander. Wenn das wieder wegfällt, stehen wir vor Lücken in unserer Existenz, die wir wieder füllen müssen. Wenn wir also auseinander gehen, müssen wir uns wieder transformieren zu den Personen ohne das „Wir“, das wir vorher waren. Oft vergessen wir auf diese Phase. Sie ist aber vital für das nächste Mal, denn sie prägt zweierlei: Erstens die Erinnerung und die Lust auf ein weiteres Mal, und zweitens die Lernerfahrung – in der Sache, in der Gruppe und in mir als Individuum. Oft haben wir solche Adjourning-Phasen im Kleinen, wenn Mitglieder gehen. Wenn dann auch neue kommen, dann haben wir gleich vielleicht ein kleines Storming und Norming zur Integration. Der Gefühlscocktail bei der Auflösung ist Trauer und die Lust aufs Draußen: Das alleine-unterm-weiten-Himmel-stehen, die Freiheit, die neuen Begegnungen. Hier wird noch einmal integriert und dann aufgelöst.

Was können wir daraus lernen?

Wenn wir die Phasen unter der Erweiterung betrachten, was jeweils Sache ist (auf den Ebenen der Einzelnen, der Gruppe und der Leitung), dann können wir lernen: Was können wir tun, um uns optimal darin zu bewegen? Wir können unsere Wahrnehmung schärfen auf Basis des eigenen emotionalen Drucks, den wir verspüren. Wir werden sensibler damit auf Schwankungen und können sie deuten. Das ist mehr als nur auf die Uhr zu sehen.

Spannend ist auch der Hinweis, den ich kürzlich von meinem Kollegen Oliver König erhalten habe: Der Autor hat die Theorie nicht einfach „erfunden“: Die Quelle der Theorie ist eine Metastudie, also die Auswertung von Studien zu Gruppenentwicklung der damaligen Zeit. Diese Studien hatten teilweise sehr diverse Ergebnisse. Erst zum Schluss ihrer Metastudie kondensiert der Autor diese auf den Kreislauf, den wir ehrlicherweise so idealtypisch in keiner Gruppe finden werden. Es ist eine Bestätigung für unsere menschliche Schwäche, gerne zu simplifizieren, damit eine eigentlich ultrakomplexe Welt für uns verständlich wird – womit wir wieder bei Mencken’s Zitat zu Beginn wären. Wir müssen vereinfachen, sonst verstehen wir garnichts, aber wenn wir zuviel vereinfachen, verstehen wir auch nichts. Die einzige Lösung: Mehr Komplexität aushalten und verstehen.

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