Die Enthemmung

30 Okt, 2016

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Heute kam ich von einer Dienstreise zurück – heute, das ist der 29. Oktober. Der Tag, an dem die Identitären (die „Verteidiger Europas“, so ein Schmarrn) sich im Linzer Landhaus feiern: „Eine Leistungsschau der patriotischen, identitären und konservativen Arbeit im publizistischen, kulturschaffenden sowie politischen Bereich“, schreiben sie auf ihrer Website. Josef Pühringer, der angeblich christlichsoziale, hat sie übrigens verteidigt.

Ich fuhr mit dem Taxi nach Hause. An der Ecke zum Tiefen Graben standen ein paar Leute, die vermutlich von der Gegendemonstration kamen. Sie waren angezogen wie ich, und sie verhielten sich wie ich – friedlich, entspannt – ich hätte es „normal“ genannt. Der Taxifahrer sah die Demonstranten, kurbelte am Lenkrad und murmelte bedauernd etwas, was klang wie „naa, wan i mei Messer dabei hätt“.

Es hat glatt eine halbe Stunde gedauert – ich war schon lange zu Hause – bis mir die Bedeutung dieser Worte in die Glieder fuhr. „Entsetzen“ ist ein Hilfsausdruck. Mir ist schlecht, ich bin durcheinander.

 Wie weit sind wir gekommen? In einem Gespräch kürzlich hörte ich den Begriff der „Enthemmung“ – es scheint deutlich weniger Hemmungen zu geben, Menschen öffentlich den Tod zu wünschen (siehe die Hasspostings auf Strache’s Facebook-Seite), oder wie mein Taxifahrer zu wünschen, sie selbst zu töten.

 Normalerweise schlage ich hier die Brücke zu meiner Arbeit. Nein, das gelingt hier wirklich nicht.

 

Kultur bindet uns – zu was?

 

Nein, ich probiere es doch, denn ich will diese Ohnmacht nicht akzeptieren, nur fassungslos dazustehen.

 Wir alle haben ganz verschiedene Anteile in uns, und wir leben nicht alle Anteile zugleich – es würde uns verrückt machen. Als Teamentwickler bin ich anders als als Ehemann, oder als Freund. Was bewegt uns dazu, uns in verschiedener Gesellschaft verschieden zu verhalten? Kultur und Beziehung. Beides ist dazu angelegt, Verhalten zu ermöglichen und zu verhindern. Es stellt uns ein Set an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung und setzt weiche oder harte Grenzen, was nicht möglich ist.

 Wenn wir etwas verändern wollen, dann geht es darum, diese Grenzen zu „lockern“, denn um etwas anders zu tun, muss es die Möglichkeit dazu geben. Das klassische OE-Modell spricht von „unfreeze“, ohne das es kein „move“ geben kann. So ein „Auftauen“ ist immer auch ein Risiko. Werden wir uns dann beschimpfen? Werden wir auseinanderdriften?

 Meine These: Wir müssen darauf achten, dass der neu gefundene Verhaltensfreiraum auch seinen Spürsinn mit sich bringt, was gut ist und was nicht. Wiederum meine These: Am Wirksamsten ist Kontakt und Authentizität. Wie wirkt mein Handeln auf wen? Was sind auch die unerwünschten Nebenwirkungen? Und ist es mir recht, wie es anderen mit meinem Verhalten geht?

 Die Identitären wollten zu ihrem Kongress nach eigenen Angaben unter sich sein und keinen Kontakt zur Außenwelt – nicht einmal unparteiischen. So können sie ungestört ihr Bild der Guten und der Bösen festigen, die der Taxifahrer so drastisch ausgedrückt hat. Hätte der Taxifahrer das auch gesagt, wenn er mit den Demonstranten gesprochen hätte? Wenn er ihren Namen wüsste? Vermutlich nicht.

 So bleibt die verstörende Diagnose, dass die rechten Populisten genau darauf bauen: Nur kein Kontakt! Sie verlassen die klassischen Massenmedien und bauen ihre eignen Kanäle auf. Schon mal HC Strache auf Facebook gelesen? Da wird einem schlecht. Sie schaffen eine Kultur des Vernichtens. Sie ermöglichen es, dass so ein Verhalten Teil unserer Kultur wird.

 War das so wie vor dem österreichischen Bürgerkrieg, als Schutzbündler und Heimwehrer sich einkapselten und nur mehr den „Feind“ sahen? War das so wie in der Blütezeit des Nationalsozialismus, als sich das Einig Deutsche Volk versammelte, um die Fensterscheiben ihrer Nachbarn einzuschlagen, sie zu treten und zu erniedrigen, und letztlich zu Millionen zu ermorden? Ich muss mal mit meinem Vater sprechen. Der hat diese Zeit noch mitbekommen.

 Es braucht also Kontakt zwischen den Gruppen. Und wie erhalten wir den Kontakt? Mit Schrecken muss ich mir eingestehen, dass ich selbst kaum noch Kontakt zu Hofer- und Strache-WählerInnen habe.

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