Seide, Schmankerl, Stiegenhäuser

Lyon liegt nicht an der Côte d’Azur. Lyon hat keinen Montblanc und auch keinen Eiffelturm: Lyon liegt im Schatten dazwischen. Dabei ist Frankreichs zweitgrößte Stadt UNESCO-Weltkulturerbe und obendrein Frankreichs Feinschmeckerhochburg. Mahlzeit.

„Also, entweder wir nehmen die Zahnradbahn, oder wir gehen durch die Traboules“, sagt Pierre und zwinkert mit den Augen. Tra…was? „Aber ja doch“, sagt er, „hier irgendwo müsste eine sein“. Sprichts, geht zu einem unscheinbaren Hauseingang und drückt auf einen Knopf. Die Tür schnarrt, er drückt sie auf, und weg ist er. Gerade bevor die Türe wieder zufallen will (welcher Knopf war das doch gleich?), schlüpfe ich ihm hinterher, und – stehe im Dunklen. „Warte“, hallt es vor mir irgendwo, und Schlurfende Schritte zeigen mir ungefähr die Richtung in der Dunkelheit, die meinen Führer verschluckt hat. „Hier müsste irgendwo ein Lichtschalter sein.“ Autsch, hier nicht: Hier ist ein Mauervorsprung.

Ein leises Klick, es werde Licht, und wir sind wieder in Lyon. Pierre steht am Ende eines gewölbten alten Ganges an einer Treppe. „Traboules, das kommt von ‚trans ambulare‘, das heisst ‚durchgehen‘ auf lateinisch.“, erzählt er mir, während dessen er nach oben entschwindet. Zwischen zwei Müllkübeln erzählt er noch, dass die Leute schon in der Renaissance keine Lust hatten, die steilen Hänge der Croix Rousse in jenen Serpentinen hinaufzuhatschen, die die Ochsen brauchten. Also hängten sie einfach die Hausflure zusammen, so dass man durchgehen konnte. Praktisch waren sie schon immer, die Leute aus dem alten römischen Lugdunum.

An zwei Fahrrädern und einem Wäscheständer vorbei stehen wir unverhofft wieder im Freien. Ein kleiner Innenhof, hinter geschwungenen Arkaden führt eine Treppe hinauf zu den Wohnungseingängen. Eine Kletterpflanze, die bis in den vierten Stock hinaufreicht, hat alles mit rosa Blütenblättern überzogen. Mittendrin im ersten Stock sitzt am Treppengeländer ein kleines Fratzengesicht aus Stein und grinst herunter. „Das sind die Gargouilles,“ sagt Pierre und lacht über mein Gesicht. „Die vertreiben den bösen Blick und die Gauner. Diese Hausdurchgänge waren natürlich nicht das Sicherste auf Gottes Erdboden, wie du Dir denken kannst, da lauerten des Nachts nicht wenige Halsabschneider.“ Ich schaue unsicher in die dunklen Ecken. „1988 haben wir sie wirklich gebraucht, unsere Fratzen. Da ging der Violeur de la Croix Rousse um, ein Geistesgestörter, der es auf junge Frauen abgesehen hat. Die Leute hier haben sogar eine eigene Bürgerwehr gegründet. Aber wir haben ihn erwischt, du musst dir keine Sorgen mehr machen. Ohnehin sind die meisten Traboules ab 18 Uhr zu, aus Sicherheitsgründen, eine Zeituhr an der Tür lässt nur mehr die Bewohner rein. Nein, nicht hier rein, c’est un bout de sac“, ruft er mir nach, als ich dem vermeintlichen Ausgang entgegen gehe. Bout de sac? Nie gehört. Als ich vor den Kellereingängen der Wohnungen stehe, habe ich ein neues Wort gelernt: Sackgasse. Also zurück, und lieber meinem Führer hinterher. Er steigt die Treppen hinauf in den ersten Stock, geht einen Gang hinunter, drückt auf den nächsten Knopf, zieht eine schwere Eichentür auf – und wir stehen wieder auf der Straße.

Als die Stadtgemeinde Lyon daran ging, die ersten historischen Durchgänge vor Verfall und Verbau zu retten, war außer bröseliger Bausubstanz aus dem 16. Jahrhundert schon nicht mehr viel übrig. Die ehemaligen Wahrzeichen Lyons (hat nicht jede Stadt aus Versehen etwas einzigartiges? Lyon hat eben Traboules!) waren verdreckt, versperrt, und obendrein ganz schön gefährlich. Aber neuer Verputz, viel Licht, ein paar niedergerissene Wände und jahrelange Überzeugungsarbeit der Stadtväter bei den Bewohnern haben runde dreihundert dieser Stiegenhäuser wieder öffentlich zugänglich gemacht. Ein Stück bewohntes Lyon, das noch immer hauptsächlich den Lyonern dient: Sie gehen hier tatsächlich durch. Die meisten Durchgänge sind unbeschildert und nur jenen bekannt, die sie durchqueren: Eine unscheinbare Eichentür, ein Klingelknopf, und weiter geht’s. Die schönsten Traboules tragen Schilder, inklusive einer kleinen Geschichte der durchquerten Häuser und ihrer berühmten Bewohner.

„Hier an den Hängen der Croix Rousse,“ plaudert Pierre schon wieder in den gegenüberliegenden Hauseingang hinein, in dem er gerade verschwindet, „da haben sich die Seidenweber eingenistet, ein uraltes Lyoner Gewerbe. Zu Beginn waren sie am Fourvière, auf der anderen Seite der Saône. Aber als die Kirche dort die Basilika baute, war ihnen das geschäftige Händlerviertel unterhalb der neuen Kirche ein Dorn im Auge, und so haben sie sie vertrieben. Die Seidenweber, die brauchten für ihre Webstühle aber Räume mit sechs Metern Höhe oder mehr, die mussten am Berghang bauen. Also sind sie von einem Hang zum nächsten gesiedelt.“ Es war wohl nicht nur das geschäftige Treiben, das der Kirche abhold war: Die Canuts, die Weber, waren auch die Vorreiter der Arbeiterbewegung: Wenn die auf ihre Rechte pochten, machte man als reicher Mann lieber die Türe fest zu. Soetwas rebellisches unter den Augen der Kirche, wie lästerlich.

Seit den Zeiten von Asterix war das ursprünglich römische Lugdunum eine blühende, umtriebige Handelsstadt. Bis hier war die Rhône schiffbar und das Rhônetal war wichtiger Durchzugsort für Waren aus ganz Europa. König Franz I. sorgte sich im 16. Jahrhundert um seine Staatskasse, die durch den importierten Luxus italienischer und chinseischer Seide gar arg geleert war, und bewegte den Lyoner Kaufmann Etienne Turquetti dazu, heimlich Industriespionage zu betreiben: Der umtriebige Händler brachte Seidenarbeiter nach Lyon, um den Italienern das lukrative europäische Monopol abzunehmen. Die italienischen Weber kamen und brachten ihre Baukunst mit: Innenhöfe, Arkaden mit Spitzbögen, geschwungene Stiegenhäuser, und – Traboules. Mit 1. Juli 1540 bekam Lyon vom König das Seidenmonopol und hatte seinen Schnitt gemacht. Mitte des siebzehnten Jahrhunderts schufteten auf an Lyons Hängen an 7.500 Webstühlen bereits knappe 60.000 Menschen. Aber man war mitten in der Neuzeit, und die Webtechnik machte gigantische Fortschritte: 1831 waren 20.000 von ihnen arbeitslos, und es krachte gewaltig: In einem zum Mythos gewordenen Aufstand zogen die Weber aus ihrem Viertel in die Stadt herunter, besetzten das Rathaus und errichteten Barrikaden. Die Nationalgarde solidarisierte sich mit ihnen und weigerte sich, zu schießen. Erst von außerhalb hergeholtes Militär sorgte für 600 Tote und Friedhofsruhe. Heute gibt es nur noch einige wenige Weber – freilich mit anderen Einkommen und Preisen als die Weber damals.

Bis zum Verschwinden der Weber waren die Hänge der Croix Rousse ihr Wohn- und Arbeitsplatz. Die Straßennahmen erinnern noch an sie: Le Grand Boulevard des Canuts, die Seidenweberstraße, die Rue de Jacquard. „Kennst Du Jacquard?“, fragt mich Pierre. „Das ist eine Webetechnik, und der Lyoner Joseph-Marie Jacquard hat sie erfunden.“ Noch heute nennen sich die Bewohner der Croix Rousse scherzhaft Canuts. Und ein bisschen stolz sind sie auch, auf ihre ruhmreiche Vergangenheit als erste Arbeiterbewegung Frankreichs. Im „Hof der Gierigen“, der Cour des Voraces an der Place Colbert hatten sie ihr Hauptquartier. Heute führt eine Traboule hindurch. Nicht, dass die Seidenweber besonders gierig gewesen wären, dieser Name wurde ihnen gegeben: Der Stadtrat hatte beschlossen, den Wein in der Stadt nur mehr in halb so großen Gefäßen (dem Pot) auszuschenken – bei gleichem Preis, versteht sich: Genug für einen Franzosen, eine Revolution anzuzetteln. „Hast du Hunger?“, fragt Pierre, bekommt glänzende Augen und meint ganz offensichtlich sich selbst. „Da drüben gibt’s einen ganz tollen Bouchon.“

Bouchon, das heißt eigentlich „Korken“. In Lyon heißt jener Ort, an dem die Korken ploppen, eben auch so. Zimmer-Küche-Kabinett ergeben hier ein Restaurant. Meist passen keine zehn Tische hinein (oft nur vier bis fünf), das Klo ist im Nebenhaus, durch den Hof, dritte Türe rechts, der Schlüssel hängt bei der Eingangstür, mit einem Knochenstück am Schnürl, damit ihn keiner aus Versehen einsteckt. Meist sind die Lokale ein Familienbetrieb: Madame kocht, Patron bedient oder umgekehrt, je nachdem, wer’s besser kann. Es ist wohl die Lage, die Lyon zum Feinschmeckerparadies von Frankreich gemacht hat: Die Weinbaugebiete Côtes du Rhone, Châteauneuf du Pape und Beaujolais liegen alle in der Umgebung. In zwei Stunden ist man am Meer mit seinen Fischen, und trotz seiner Binnenlage zählt Lyon schon zum Midi, dem Süden von Frankreich. Das merkt man vor allem an seinen Kräutern und seinem Gemüse. Jeden Tag ist in Lyon irgendwo Markt. Dort treffen sich die Lyonaiser mit den Bauern aus der Provence und ihrem Lamm, mit den Fischern aus Marseille mit ihrem frischen Fang, den Obst- und Gemüsebauern aus dem Isère und den Käsern aus den hohen Bergen Savoyens. Eine Promenade zwischen den Petit Chèvres ist ein Genuss: Kleine Ziegenkäse, in fünf Reifegraden zwischen topfencremig und hantig-böcklig.

Der Madame im Petit Flore, einem kleinen Bouchon auf der Halbinsel im Zentrum, obliegt es, diese erlesenen Zutaten zu noch Erlesenerem zusammenzumixen. Ein reifer Ziegenkäse („der ist von hier, aus der Region!“) im Brandteigmantel gebraten auf Salat, dazu Senfsauce. „Der Saint Marcellin, der schmeckt am besten kurz bevor er von selber wegläuft“, lacht der Patron und stellt eine neue Flasche Côtes du Rhône auf den Tisch, wie üblich offen, in einer Flasche ohne Etikett, mit einem mehrere Zentimeter dicken Glasboden. Der ist wohl dazu da, damit die Flasche auch dann noch steht, wenn sie leer wird, dann sind nämlich die Leute, die danach greifen, nicht mehr so standfest. Es fällt aber auch schwer, nicht nachzufassen: Für sich genommen schmeckt der Wein zwar gut, aber ein wenig roh und ungehobelt. Aber mit den quenelles, den Nockerln in Hechtsauce, entwickelt er sich plötzlich zu einer ungeahnten Größe. „Das ist unser Wein“, beugt sich mein Nachbar verschwörerisch herüber, „der ist eben fürs Essen gemacht.“

Pierre mir gegenüber isst ein Geflügel in leichter Wein-Kräutersauce auf Salat. „Magst du kosten?“ fragt er, und sieht nicht danach aus, als ob er gerne etwas abgeben würde. Ätsch, ich will aber, und das Geflügel zergeht auf der Zunge. Was ist das bloß? „Nicht so wichtig“, sagt der er und lacht. Nicht so wichtig? Dann will ich es doch genauer wissen. Der Patron grinst verschwörerisch: Es ist der Magenschließmuskel des Huhns. Na, Ihr Lyonnaiser schafft es wohl, aus allem eine Delikatesse zu machen.

Als wir uns zum Gehen fertigmachen, kommt noch ein Pärchen herein. Ah non, sagt der Patron entrüstet und stemmt die Hände in die Hüften, ich habe schon alles weggeräumt, wo kommen wir denn hin, jetzt noch aufzukreuzen. Scheiß Pariser, sagt er zu seiner Frau in der Küche, haben keine Ahnung, wann man hier essen geht. Man merkt: Wir sind hier in der Provinz, trotz TGV, dem berühmten Hochgeschwindigkeitszug, der die 500 Kilometer nach Paris in weniger als zwei Stunden schafft.

Der Grießpudding mit Schokosauße hat mich geschafft. Nie wieder essen, nie wieder. „Treffen wir uns beim Gros Caillou zum Frühstück?“, fragt Pierre. „Die haben die besten Croissants von Lyon, und eine tolle Aussicht über die Stadt.“

Und wenn ich drei Kilo zulege hier: Ich kann schon wieder nicht nein sagen.

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