Saudade am Tejo

Lissabon liegt dort, wo Europa im Westen aufhört. Von hier brach Vasco da Gama auf, um den Seeweg nach Indien zu entdecken, und sein Erfolg hat Portugal zerstört. Heute ist Lissabon wieder wach und lebendig, auf portugiesische Art.

Wer weiß schon, wo der Largo Penireiro ist. Kein Stadtplan zeigt alle Gassen der Alfama, dem alten arabischen Viertel von Lissabon, und kein bekannter Touristentrampelpfad geht hier vorbei. Wer hier her kommt, wohnt hier oder hat sich verlaufen. Rechts auf einem Müllhaufen steht eine zerbeulte Fernsehantenne, darüber lehnt ein klappriges Baugerüst an einer bröseligen Hausmauer, so als ob keiner so recht wüsste, wer hier wen stützen sollte. Zwischen den Stangen baumelt feuchte Bettwäsche von einer x-mal geknüpften Wäscheleine. Ein kleiner weißer Pudel thront zwischen ausgedienten Fensterrahmen und zerbrochenen Ziegeln und schnuppert an einem herabhängenden Leintuch.

Davor, am einzigen geraden Fleck dieses Platzes, stehen vier kleine Tische mit je vier Sesseln. Mehr geht wirklich nicht hin. Irgend jemand hat quer über den Patio eine Reihe Glühbirnen gespannt und im ersten Stock zum Fenster rein in die Steckdose gestöpselt: Mit der kümmerlichen öffentlichen Funzel an der Ecke würde man nicht einmal seine Schuhspitzen erkennen.

Über die Stiegen kommt ein kleines dünnes Männchen herunter, unrasiert, im abgetragenen Frack und aufgeschlagenen Hemdsärmeln, die im Halbdunkel des Platzes leuchten. Er begrüßt alle mit Handschlag, auch die paar Touristen, die zufällig hängen geblieben sind. Ein weicher Händedruck, warm, schüchtern flüchtig.

Als die Gitarren zu klimpern beginnen, ist er plötzlich wie um einen Kopf größer, umfasst den Platz und alle Menschen mit einer Geste.

Fado kommt wie die Dunkelheit

Als er dann singt, ist es so still, dass man einen Olivenkern fallen hören könnte. Niemand setzt auch nur sein Glas ab oder hebt es auf. Als er fertig ist, kommt schüchterner Applaus auf, vom Platz und von den Balkonen im Stockdunkel zwischen dem Licht am Boden und dem dunkelblauen Himmel. Der kleine weiße Pudel schüttelt sich und trottet davon, der Sittich vor dem Fenster im zweiten Stock tschilpt wieder. Fado kommt auf, wie die Dunkelheit am Abend: Still und leise, aber du spürst ihn kommen. Er geht auch wie das schöne Wetter in Lissabon, man merkt es kaum, aber man kann damit rechnen.

Außer den Musikern sieht jetzt noch niemand Isabel, das Tablett zur Seite gelegt, mit dem sie gerade noch Schwertfisch und Wein serviert hat, die fleckige Schürze noch um die Hüften. Man möchte nicht glauben, dass sie überhaupt so singen kann, so verkrümmt, wie sie am Türstock lehnt. Ich bin so wütend, so himmelschreiend wütend, ich will dich nie wieder sehen, singt sie, mit einer anderen Frau an deiner Seite. So steht sie, mit geschlossenen Augen, sich mit beiden Händen am Türstock festhaltend, und singt ihr ganzes Sein, ihre ganze Existenz, von einem Bein aufs andere tretend. Fado singt man nicht, Fado ist man. Man lässt sich führen, lässt sich fallen, lässt sich davon tragen, die Trauer und den Schmerz des eigenen Seins mit den Zuhörern zu teilen.

Im Herrgottswinkel des kleinen Lokals, das Isabel und ihrem Mann gehört, hängt nicht Maria, sondern Amália. Sie, Dona Amália Rodriges, hat den Fado so gesungen, wie niemand vor oder nach ihr. Auch die Nachwuchsstars wie Dulce Pontes oder Mísia verbitten sich jeden Vergleich. Nie wieder hat jemand so gekonnt die Töne verfehlt, und damit einer ganzen Generation von Portugiesen wieder ein Gesicht gegeben, ein leidendes, aber ein stolzes: Saudade nennen sie das Lebensgefühl im alten maurischen Viertel von Lissabon, der Alfama, in dem die Gassen so breit sind wie zwei Menschen, manchmal auch wie nur einer. Hier wurde der Fado geboren, in der Saudade, einem Lebensgefühl, so unübersetzbar wie unbeschreibbar. Ein homogenes Ganzes aus Fatalismus, Lebenslust, Stolz – und Leiden, Leiden, Leiden.

In der Nacht, bevor der Seefahrer Vasco da Gama aufbrach, um einen Seeweg nach Indien zu finden, verzog er sich mit seiner Mannschaft in eine kleine Kapelle in Belém, heute einem Vorort von Lissabon, um zu beten. Nach all dem, was wir wissen, dass die damalige Seefahrerkunst zu bieten hatte, hatten sie auch allen Grund dazu: Sie gingen auf eine Reise, von der sie noch nicht wussten, wie sie wiederkehren sollten.

Reichtum macht arm

Aber als sie zurück kamen, hatten sie ihre Schiffe beladen mit edlen Gewürzen, deren Gewicht mehr als in Gold aufgewogen wurde: Der portugiesische König, der die Expedition finanzierte, beanspruchte einen zehnten Teil für sich, und alle zwei Schiffsladungen Pfeffer. Mit dem Erlös aus dem Pfeffer erbaute er das größte Kloster der iberischen Halbinsel – an jenem Platz, an dem die Kapelle stand, in der Vasco da Gama eine Nacht um seine Rückkehr gebetet hatte.

Aber der unermessliche Reichtum stürzte Portugal ins Unglück: Reich ist nicht, wer viel Geld hat, sondern reich ist, wer mit dem Geld arbeitet. Während sich also die portugiesischen Feudalherren aus ganz Europa mit dem Besten und Teuersten versorgen ließen, verkam das Land und wurde zum europäischen Armenhaus. Reich wurden die Niederländer, Dänen und Briten, bei denen Industrie und Gewerbe aufblühten.

Als sich Portugal einige hundert Jahre später der Lage bewusst wurde, war es schon zu spät: Europa war dem hungernden Zipfel im Westen davon gezogen. Portugal versank in einem morbiden Schlaf, zu dem die portugiesische Variante des Militärdiktators, Salazar, das ihre hinzufügte.

Amália im Herrgottswinkel

Es scheint, als hätte Portugal auf Amália gewartet, um endlich aus dem selbstgewählten Dämmerschlaf zu erwachen, in den es sich selbst mehr als rüde hineingetreten hatte nach gelungenen Entdeckungen, gescheiterten Ausbeutungen, Europas letzter faschistischer Diktatur und Europas letzter linker Revolution. Endlich ist jemand da, der zeigt, dass Portugal ohne Angola und Moçambique, aber dafür mit dem höchsten Prozentsatz kommunistischer Bürgermeister Europas auch noch existiert, und noch dazu ist es eine Frau, die es ihnen zeigt: Männer scheinen in diesem Land schon genug Unglück gebracht zu haben.

Die Stirn wellt sich zu einem Dutzend Sorgenfalten, der Ton steigt hinauf, an den Balkonen vorbei. Die portugiesische Inkarnation des Selbstmitleids, nennt Hans Magnus Enzensberger den Fado respektlos. Aber ehrlich ist er wenigstens, und schön, unglaublich schön ist es, zu leiden.

Mittlerweile stehen an der ganzen Wand um den Largo Menschen, mit und ohne Zigarrette, mit der karierten flachen Kappe, offenem Hemd oder auch nicht, die Männer unten, die Frauen oben auf den Balkonen. 80 Quadratmeter Lissabon. Ein Wunder, dass eine solche Welt zwischen Euro und normierten Gurkenkrümmungen überhaupt überlebt hat. Vielleicht liegt es daran, dass man kaum hinfindet, und mit einem halben Liter Wein noch schwerer wieder hinaus, aus diesem Stadtteil, der genauso gut in Algier sein könnte, oder in Tanger oder in Fes.

und noch folgendes…

Was zur Zeit der Publikation dieses Artikels noch nicht ging: jetzt geht es. Den Largo Penireiro gibt es hier. Und das Lokal ist das Fado na Morgandinha. Es gibt es noch immer – zum Ansehen ist es hier. Und ob das ein Gewinn für die Menschheit ist, dass wir für einen Blick in dessen Herrgottswinkel (in dem tatsächlich noch immer Amália hängt) nicht mehr reisen müssen, sondern ein Klick reicht, das wäre eine Diskussion wert. Aber nur bei einem Glas portugiesischem Rotwein. Am Largo Penireiro. Ganz ohne Internet.

zum Weiterlesen…

über Lissabon gibt es noch eine Geschichte: Die Tage von Madredeus.

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